Alfred Tarski (Warszawa), Geschichtliche Entwicklung und gegenwärtiger Zustand der Gleichmächtigkeitstheorie und der Kardinalzahlarithmetik

Die Theorie der Gleichmächtigkeit und der Kardinalzahlen besitzt trotz ihrer kurzeń, denn kaum fünfzigjährigen Existenz eine interessante und charakteristische Entwicklungsgeschichte.

Diese Theorie bildet bekanntlich einen wichtigen Teil einer umfassenden mathematisechen Disziplin – der Mengenlehre. Sie verdankt ihre Entstehung, wie überhaupt die ganze Mengentheorie, einem eiiizigen Forscher – Georg Cantor. In seinen bekannten Arbeiten von den Jahren 1874–1897 (Angesichts einer ausführlichen Bibliographie der abstrakten Mengenlehre, die in dem neuen Buch von A. Fränkel: Einleitung in die Mengenlehre, te Auflage, Berlin 198, S. 391–417, sich befindet, wird in diesem Artikel von genaueren Zitaten abgesehen.) hat bereits Cantor sämmtliche Grundbegrifłe dieser Theorie eingeführt, sowie eine Reihe der Fundamentalsätze aus diesem Gebiete begründet oder zum wenigsten formuliert. Das Cantor’sche Werk wurde von seinen Schülern und Nachfolgern – den Herren F. Bernstein, Hessenberg, J. König, Russell, Whitehead, Zermelo u. a. – in intensiver Weise fortgeführt. In zahlreichen Abhandlungen aus den ersten Jahren des laufenden Jahrhunderts, wobei an ersten Stelle die Dissertation von Hrn Bernstein zu erwähnen ist, haben die genannten Autoren nicht nur Beweise für mehrere von Cantor aufgestellten Sätze geliefert, sondern auch viele neue Resultate mehr oder weniger allgemeiner Natur erreicht, grösstenteils unter Verwendung sinnreicher Methoden und subtiler Schlüsse.

Als Angelpunkt für die Entwicklung der Gleichmächtigkeitstheorie ist das Jahr 1904 zu nennen, in welchem von Hrn Zermelo zum ersten Male das Auswahlaxiom explicite formuliert und zum Beweise des berühmten Wohlordnungssatzes herangezogen wurde. Infolge dieses Satzes reduziert sich wie bekannt die ganze Arithmetik der unendlichen Kardinalzahlen auf einen ihrer Abschnitte, nämlich auf die Theorie der sog. Alefs, d. i. der Kardinalzahlen der wohlgeordneten Mengen. In Verbindung mit gewissen weitgehenden. noch von Cantor formulierten und etwas später in den Hessenberg’schen Grundbegriffen der Mengenlehre (1906) begründeten Alefsätzen, bewirkt diese Tatsache, dass ganze Teile der Theorie (Probleme der Vergleichbarkeit, Addition, Subtraktion und Multiplikation einer endlichen Faktorenanzahl der Kardinalzahlen) fast trivial und irgendwelcher interessanten Momente beraubt werden. Gewisse Fragen (in erster Linie Potenzierung der Kardinalzahlen betreffend), die nach wie vor unentschieden bleiben, erweisen sich dagegen so schwierig, dass man bis heute noch nicht im Besitze von Methoden ist, die einen wesentlichen Schritt zu ihrer Beherrschung ermöglichen würden. So hat denn für Mathematiker, die ohne Vorbehalt das Auswahlaxiom angenommen haben (und als solche waren und sind auch heute die meisten Forscher auf dem Gebiete der Mengenlehre zu bezeichnen), die Kardinalzahlarithmetik seit dem Erscheinen der genannten Resultate von Herren Zermelo und Hessenberg jede Anziehungskraft als Forschungsbereich verloren. Es lässt sich in der Tat in den nachfolgenden Jahren ein Stillstand in der Fortwicklung der betrachteten Theorie wahrnehmen; die wenigen Arbeiten, die zu verzeichnen sind, bilden fast ausschliesslich geringere Beiträge, die schon bekanntes in anderer Weise darstellen oder vervollständigen. Wenn man trotzdem diese Periode nicht als fruchtlos für das uns interessierende Gebiet bezeichnen darf, so liegt das nur daran, dass damit gleichzeitig eine logische Vertiefung und festere Fundierung der Grundlagen der Mathematik, namentlich der Mengenlehre mitsamt der Gleichmächtigkeitstheorie intensiv betrieben wird: es genügt in dieser Beziehung auf die bekannte Abhandlung von Hrn Zermelo (aus dem Jahre 1908) und auf das grosse Werk von den Herren Whitehead und Russell: Principia Mathematica (1912–1913) hinzuweisen.

Erst in den letzten Jahren ist die Forschungsarbeit auf unserem Gebiete in ein lebhafteres Tempo getreten. Es tritt hier eine Mitwirkung verschiedener Faktoren hervor. Durch eine wachsende Opposition gegen uneingeschränkten Gebrauch des Auswahlaxioms wird man vor allem dazu geführt, eine scharfe Grenze zwischen denjenigen Ergebnissen, die dieses Axioms bedürfen, und den übrigen zu ziehen, was insbesondere Untersuehungen über die Rolle des Auswahlaxioms bei der Begründung einzelner Resultate mit sich bringt. Von diesem Standpunkte aus kann als Beginn dieser neuesten Periode die bekannte Arbeit über das Auswahlaxiom vou Hrn Sierpiński aus dem Jahre 1919 angesehen werden, obwohl diesbezügliche Untersuchungen auch schon früher unternommen wurden. – Es stellt sich ferner heraus, dass die ohne das Auswahlaxiom gewonnenen Ergebnisse, wenn sich auch meistens bloss Spezialfälle oder leichte Folgerungen aus Theoremen sind, welche dieses Axioms bedürfen, auch für diejenigen Mathematiker Interesse bieten, die sich gegenüber axiomatischen Fragen völlig gleichgültig verhalten: die genannten Ergebnisse sind nämlich oftmals Verallgemeinerungen fähig, deren Anwendungskraft weit über den Rahmen der Kardinalzahlarithmetik und sogar der ganzen Mengenlehre im eigentlichen Sinne des Wortes hinausreicht. – Es scheinen sich schliesslich auch Zugänge zu jenen noch unbewältigten und schwierigsten Problemen der Theorie zu öffnen, die im Vor hergehenden erwähnt wurden.

Im gegenwärtigen Augenblicke entwickelt sich die Theorie der Gleichmächtigkeit und der Kardinalzahlen in einigeu Richtungen, die hier eine kurze Besprechung finden mögen.

Es werden zunächst Untersuchungen geführt, die eine weitmöglichste Begründung des in Frage kommenden Gebietes unter Vermeidung des Auswahlaxioms bezwecken. Diese Untersuchungen greifen in verschiedene Teile der Theorie ein. Die bisher erreichten Resultate sind grösstenteils von spezieller Natur; die weitergehenden unter ihnen betreffen die Vergleichsrelationen zwisehen Kardinalzahlen, die Operationen der Addition und Subtraktion, sowie Eigenschaften der Alefs Auskunft darüber kann in den Lehrbüchern der Mengenlehre von Hrn Sierpiński (Vgl. die neu erachienenen Leçons sur les nombres transfinis, Paris 1928, und namentlich Zarys teorji mnogości (Abriss der Mengenlehre, polnisch), cz. 1a, wyd. 3ie, Warszawa 1928.), wie auch in der gemeiusamen Abhandlung von Hrn Lindenbaum und dem Verfasser: Communication sur les recherches de la théorie des ensembles (1926) gefunden werden.

In einem engen Zusammenhange mit den erwähnten Untersuchungen stehen weitere, die über den Bereich der Gleichmächtigkeitstheorie hinausgehen and die man folgendermassen charakterisieren kann. Indem man diejenigen Beweise einzelner Ergebnisse der Theorie analysiert, die das Auswahlaxiom (oder zum wenigsten den Wohlordnungssatz von Hrn Zermelo) nicht benutzen, sucht man allgemeinere Sätze zu gewinnen, die gewisse Eigenschaften beliebiger, hauptsächlich eineindeutiger Abbildungen betreffen. Diese Sätze ermöglichen ihrerseits weitgehende Verallgemeinerungen jener analysierten Resultate aus der Gleichmächtigkeitstheorie; es treten hier an stelle der Begriffe Gleichmächtigkeit und Kardinalzahl die Begriffe der Aequivalenz der Mengen in bezug auf eine gegebene Abbildungsklasse und des Typus einer solchen Klasse – also derartige allgemeine Begriffe, die als Spezialfälle die wichtigen und bekannten Begriffe der Gleichmächtigkeit, der Aehnlichkeit geordneter Mengen, der Homöomorphie und der Kongruenz der Punktmengen, bzw. die Begriffe der Kardinalzahl, des Ordnungstypus, des topologischen Typus usw. liefern. Die dadurch gewonnenen Ergebnisse finden oft interessante Anwendung in verschiedenen Teilen der Mengenlehre, wie auch in verwandten Gebieten der Mathematik. In dieser Weise entsteht eine neue Theorie, an Allgemeinheit die Gleichmächtigkeitstheorie weit übertreffend, und zwar die Aequivalenztheorie der Mengen in bezug auf beliebige Abbildungsklassen. Heute darf man es wohl als eine empirische Tatsache ansehen, dass sämmtliche bekannten Ergebnisse, welche Vergleichsrelationen zwischen Kardinalzahlen sowie die Verknüpfungen der Addition und Subtraktion betreffen und unabhängig vom Auswahlaxiom begrüdet waren, bloss Spezialfälle von Sätzen dieser neuen Theorie sind. (Es wird sich dabei nicht immer um ganz beliebige Abbildungsklassen handeln: will mail einzelne Resultate der Gleichmächtigkeitstheorie (etwa den Aequivalenzsatz von Cantor–Bernstein oder den Bernstein’schen Satz über die Division der Kardinalzahlen) verallgemeinern, so muss man den Klassen mehr oder wenig speziellen Eigenschaften, wie z. B. die Grruppeneigenschaft oder die sog. (endliche oder abzählbare) Additivität, zuschreiben.) – In der beschriebenen Richtung bewegen sich die Arbeiten von den Herren Banach, D. König und Kuratowski im VI und VIII Bd. der Fundamenta Mathematicae. Viele Ergebnisse aus diesem Bereiche sind von Hrn Lindenbaum und dem Verfasser gefunden, aber noch nicht veröffentlicht worden; kurze Mitteilungen darüber findet man in der schon zitierten Communication.

Anderer Art sind Untersuchungen, welche eine Klarung der Rolle des Auswahlaxioms in den Beweisen einzelner Sätze der Theorie der Kardinalzahlen zum Ziele haben. Diese heutzutage weit geförderten Untersuchungen haben zu ziemlich unerwarteten Resultaten geführt: Es stellt sich heraus, dass zahlreiche Sätze, die ganz spezielle Folgerungen jenes Axioms zu sein scheinen, sind doch als mit ihm in seiner ganzen Ausdehnung äquivalent erweisen. Gegenwärtig lassen sich in der Kardinalzahlarithmetik nur wenige Sätze angeben, für welche sich nicht eine der beiden Eventualitäten nachweisen liesse: entweder die Unabhängigkeit des Satzes von dem Auswahlaxiom oder seine volle Aequivalenz mit demselben. – Die erste tiefergehende Arbeit aus diesem Bereiche, nämlich die Abhandlung von Hrn Hartogs: Ueber das Problem der Wohlordnung, stammt noch aus der frühereren Forschungsperiode, denn aus dem Jahre 1915; weitere Ergebnisse, insbesondere diejenigen des Verfassers, findet man in seiner Abhandlung vom V Bd. der Fund. Math. in der Communication und in den Lehrbüchern von Hrn Sierpiński.

Auch in denjenigen Teilen der Kardinalzahlarithmetik, die von der heutigen Mathematik mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht genügend beherrscht werden können, nämlich in der Theorie der Potenzen und der unendlichen Produkte der Kardinalzahlen, sind weitere Untersuchungen keineswegs eingestellt worden. In der letzten Zeit sind hier sogar teilweise neue Resultate zu Tage gekommen, worunter grössere Aufmerksamkeit wohl dasjenige verdient, nach welchem jede unendliche Multiplikation der Alefs auf Potenzierung zurückgeführt werden kann. Die Mehrzahl dieser, an frühere Forschungen von den Herren Bernstein, Hausdorff und J. König anknüpfenden Resultate ist in dem Artikel des Verfassers vom VII Bd. der Fund. Math. enthalten. Ergänzungen finden sich in der Communication.

Eng verknüpft mit den soeben charakterisierten Untersuchungen ist eine weitere Forschungsrichtung in dem uns interessierenden Gebiete. Ihr Zweck ist eine Annäherung an jene schwierigsten, schon einige Male erwähnten Probleme der Kardinalzahlarithmetik, eine Aufklärung ihrer logischen Zusammenhänge und ihrer Bedeutung für die gesammte Theorie. Unter diesen Problemen nehmen bekanntlich die Hypothese des Kontinuums und namentlich ihre Verallgemeinerung, die sog. Cantor’sche Alefhypothese den ersten Rang ein. Das in dieser Richtung erzielte Hauptresultat lässt sich in folgender Weise charakterisieren: Die Cantor’sche Alefhypothese besitzt die gleiche Bedeutung für die Theorie der Potenzierung, wie das Auswahlaxiom für andere Teile des betrachtenden Gebiets – die Annahme dieser Hypothese würde eine Entscheidung für sämtliche interessanten Probleme der Potenzierung mit sich bringen und damit diesen Abschnitt der Theorie trivial machen. Von einem gewissen Standpunkte aus (indem man nämlich von Existenzialproblemen, die weiter unten eine Besprechung finden werden, absieht) würde also eine positive Entscheidung dieser Hypothese zugleich eine definitive Vollendung des ganzen Gebäudes der Kardinalzahlarithmetik bedeuten. Eine Aufmerksamkeit verdienen überdies die engen logischen Zusammenhänge, die zwischen der betrachteten Hypothese und dem Auswahlaxiom bestehen: das Auswablaxiom erscheint als einfache Folgerung der Cantor’schen Hypothese in einer ihrer bekannten Formulierungen. – Nähere Auskunft über diese Fragen wird in den zuletzt zitierten Arbeiten gegeben; vgl. ferner die Abhandlung von Hrn Baer im 29 Bd. der Mathematischen Zeitschrift. evntl. auch die Artikeln des Verfassers im XII und XIV Bd der Fund. Math.

Einer Erwähnung bedarf noch eine letzte Gruppe von bis jetzt unentschiedenen Problemen der Gleichmächtigkeitstheorie: es sind diejenigen, welche die Existenz von hinreichend grossen unendlichen Kardinalzahlen betreffen. Diese Probleme sind im Gegensatz zu allen oben besprochenen in hohem Masse von den spezifischen Eigenschaften desjenigen Systems der Mengenlehre abhängig, welches den Betrachtungen zugrunde gelegt wurde: während in einem System, wie z. B. in den Principia Mathematica, sogar die Existenz einer einzigen unendlichen Kardinalzahl weder behauptet noch verneint werden kann, wird auf Grund eines anderen Systems, etwa des Zermelo–Fraenkel’schen, erst die Existenz jener „exorbitanten Grössen” von Hrn Hausdorff. d. i. der regulären Alefs mit Limesindices, zweifelhaft. Die bis jetzt wenig geförderte Behandlung dieser Fragen hat fast keine Berührungspunkte mit anderen Betrachtungen aus dem Gebiete der Kardinalzahlarithmetik zu Tage gebracht, dafür steht sie in einem engen Zusammenhange mit den methodischen Forschungen über die Grundlagen der Mengenlehre und ihrer einzelnen Teile. Von den hier bis jetzt erreichten Ergebnissen verdient vielleicht die Feststellung der Unabhängigkeit der einzelnen Existenz- problemen von den benutzten Systemen der Mengenlehre hervorgehoben zu werden. Man vergleiche in dieser Beziehung den Bericht über den Vortrag von Hrn Kuratowski in Ann. Soc. Pol. Math. III und die oben zitierte Arbeit von Hrn Baer, ferner auch Communication (§ 4).

Zum Abschluss mögen einige Worte den Zukunftsaussichten gewidmet werden. Man darf wohl hoffen, dass die Theorie der Gleichmächtigkeit und der Kardinalzahlen, einmal aus ihrem Stillstand hinausgerückt, sich fernerhin erfolgreich entwickeln wird und dass die vielseitigen Forschungen der letzten Jahre noch manches interessante Resultat zu Tage fördern werden. Es wäre jedoch unserer Meinung nach verfehlt, diesen Untersuehungen uns allzuviel Hoffnungen gegenüberzustehen; es erscheint recht zweifelhaft, ob sie je eine Entscheidung der grundlegenden und schwierigsten Probleme der betrachteten Theorie (etwa der Kontinuumhypothese) bringen werden. Weitaus wahrscheinlicher scheint (obwohl diese Meinung durch keine zwingende Argumente begründet werden kann) die entgegengesetzte Lösung des Problems zu sein: wir sind geneigt zu verinuten, dass die Forschungen im Gebiete der Metamathematik, die von Hrn Hilbert eingeleitet und in den letzten Jahren von mehreren Gelehrten mit grossem Eifer fortgesetzt werden, in näherer oder fernerer Zukunft zu der Feststellung führen werden, dass die genannten Probleme von den axiomatischen Voraussetzungen, die der heutigen Mengenlehre zugrunde liegen, völlig unabhängig sind.